Seele und Persönlichkeit
von Gerrit Gielen
Konzepte wie “Seele”, “Ego”, “Persönlichkeit”, “Das innere Kind” und “Bewusstsein” werden in esoterischen Schriften oft genutzt. Sie sind Teil dessen, was unsere Menschheit formt. Aber wie stehen sie zueinander in Beziehung und welche Bedeutung haben sie für uns in unserem täglichen Leben? Die traditionelle Psychologie bietet eine Vielfalt von Modellen der menschlichen Persönlichkeit an. Was oft fehlt, ist die spirituelle Perspektive. Aus meiner Sicht ist im kern der spirituellen Perspektive die Idee, dass wir als menschliche Wesen teilweise unabhängig sind von Zeit und Raum und dieser Teil ist unabdingbar für ein passendes Verständnis dessen, wer wir sind. Ich benenne diesen Teil als Seele. Nicht nur haben wir eine Seele, die jenseits von Raum und Zeit existiert, diese Seele manifestiert sich innerhalb von Raum und Zeit in mehr als nur einem einzigen menschlichen Leben: wir alle haben viele Leben. Ich glaube, das Konzept der Reinkarnation ist ebenso bedeutsam für die spirituelle Perspektive.
In diesem Artikel stelle ich ein psychologisches Modell des menschlichen Wesens aus einer spirituellen Sicht vor und dieses Modell beruht auf meiner Erfahrung als Hypnotherapeut und meiner spirituellen Einsicht, die sich über die Jahre entwickelt hat. Ich werde jedes der genannten Konzepte betrachten und beschreiben, was ich für ihre definierenden Eigenschaften halte.
Die Seele
Wenn wir die Welt um uns herum mit unseren Sinnen wahrnehmen, scheint alles sich innerhalb von Raum und Zeit zu manifestieren. Als ich vor 40 Jahren zur Universität ging, um Physik, Mathematik und Astronomie zu studieren, nahm ich das Universum als einen grundsätzlich endlosen Raum wahr, der eine unendliche Anzahl von Partikeln enthält. Trotzdem glaubte ich ebenso an die Existenz einer menschlichen Seele und Reinkarnation. Und es war mir nicht klar, wie ich diese fixierten, kausalen, mathematischen Gesetze des physischen Universums mit der Inneren Welt des Geistes vereinen konnte: Bewusstsein, Subjektivität, Freiheit. Ein Schlüssel war für mich Einsteins Relativitätstheorie. Sie lehrte mich dass auf einer Ebene des Lichts Zeit und Raum nicht existieren; für das Licht gibt es nur das ewige Jetzt. Um das klarzustellen: wenn wir auf einen entfernten Stern schauen, sagen wir, dass das Licht dieses Sterns viele Jahre braucht, um uns durch den Raum zu erreichen. Aber für den Lichtstrahl selbst ist das nicht der Fall. Wenn es uns möglich ist, mit dem Licht zu reisen, sozusagen auf dem Lichtstrahl reiten, würden wir Zeit und Raum nicht erfahren. Das rührt daher, dass durch die Bewegung in Lichtgeschwindigkeit Raum und Zeit kollabieren. Licht bewegt sich nicht innerhalb von Zeit und Raum; sondern formt unsere Wahrnehmung von Zeit und Raum.
Die Relativitätstheorie zeigt das folgende Bild des Universums. Licht ist eine Form von Energie. Alle Energie existiert in einer zeit- und raumlosen Form: dem ewigen Jetzt. Aus der Ebene der reinen Energie entsteht Materie und mit der Materie entstehen Zeit und Raum. Ebenso wie Licht im physikalischen Universum unabhängig von Zeit und Raum ist, ist gleichermaßen ein Teil von uns unabhängig von Zeit und Raum, unabhängig vom physischen Körper: das ist der Teil, den ich die Seele nenne.
Was die Seele genau ist, entzieht sich unserem Verständnis. Unser Denken basiert vollständig auf der Klassifizierung von Dingen in Zeit und Raum. Auch ist unsere Sprache bestimmt durch die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aber die Seele transzendiert Zeit und Raum. Die Seele ist wie ein Stern mit vielen Strahlen. Und wenn solch ein Strahl unsere Welt berührt, wird ein menschliches Wesen geboren: eine Inkarnation der Seele. Etwas von dem Licht des Sterns ist in uns; das ist das Schöne, das Gute in uns. Wir nennen es unser Höheres Selbst, unser Inneres Licht. je mehr wir uns diesen inneren Lichts bewusst werden, desto reicher und erfüllter wird das Leben. Wir werden schließlich dieses wunderschöne Sternenlicht auf der Erde ausdrücken und die Welt und die Menschheit damit bereichern.
Sobald wir beginnen dieses innere Licht gewahr zu werden – unsere Seele – beginnen wir einen Wachstumsprozess. Wir haben das Gefühl, dass wir mehr wir selbst sind und gleichzeitig fühlen wir uns noch mehr mit der Welt verbunden, mit dem Leben um uns herum und mit dem Universum. Zweifel verschwinden; wir beginnen zunehmend zu realisieren, wer wir sind und dass es für uns einen einzigartigen Platz im Universum gibt. Wenn wir die Welt der Dunkelheit, Zweifel und Angst hinter uns lassen, erfahren wir das ewige Licht in uns selbst. Es ist die Seele, die unserem Leben Bedeutung verleiht.
Menschen fragen sich oft, was das Ziel ist, die Bedeutung des Lebens. Aufgrund der Art und Weise, wie wir erzogen wurden, suchen wir nach Bedeutung und Gründen außerhalb unserer selbst. Wir wollen im Leben etwas erreichen, eine Karriere aufbauen, etwas Wertvolles schaffen, eine Beziehung eingehen oder Kinder bekommen. Aber der wahre Zweck unseres Lebens ist ein innerer Grund: dem Licht unserer Seele zu erlauben vollständig durch uns zu fließen. Das ist die wahre Selbstverwirklichung. Wenn wir das einmal erreicht haben, fragen wir nicht mehr länger danach, was die Bedeutung unseres Lebens ist; die Suche endet. Da gibt es ein einfaches und offensichtliches Wissen: wir haben den Platz im Universum gefunden. Der Pfad ist nicht außerhalb von uns, sondern in uns: wir sind der Weg. Durch zu uns selbst vertrauensvoll sein folgen wir diesem Pfad.
Die irdische Persönlichkeit
Zu Beginn unseres menschlichen Lebens berührt ein Lichtstrahl von unserer Seele die Erde. Die zeitlose Energie unserer Seele vermischt sich mit einer Reihe anderer Energien und unsere Erdpersönlichkeit wird geboren. Diese Persönlichkeit ist bei jedem einzigartig. In vorhergegangenen Leben hattest Du ein anderes Temperament, andere Erwartungen, andere Ängste; alles war anders – Deine Seele ausgenommen. Der innerste Kern ist immer derselbe, aber die Energien drum herum sind unterschiedlich. Wie der amerikanische General Patton in einem Gedicht schrieb:
So wie durch Glas und dunkel
Seh ich lebenslangen Kampf
Ich focht in vielerlei Gestalten
Unter vielen Namen, aber immer ich selbst
So as through a glass, and darkly
The age long strife I see
Where I fought in many guises,
Many names, but always me.
Es ist die Seele, die uns das Gefühl von ich bin gibt. Auch wenn wir ein Leben mit einer sehr unterschiedlichen Persönlichkeit leben, einem anderen Geschlecht – manchmal sogar in einem nicht-menschlichen Körper – immer noch können wir spüren: das war ich. Das gilt auch für unser gegenwärtiges Leben. Stell Dich vor einen Spiegel und denke an Deine Kindheit. Dein Gesicht ist gealtert, Deine Emotionen und Dein Bewußtsein haben sich geändert – aber trotzdem… Du bist es. Wir fühlen tief in uns drinnen, im Kern unseres Seins eine Identität, ein Ich, das immer da gewesen ist und sich nicht ändert. Dieses Ich ist unabhängig von Zeit und Raum, es altert nicht mit dem Körper – was wir wahrnehmen, ist unsere Seele.
Unsere irdische Persönlichkeit kann mit einem Sonnensystem verglichen werden: der Kern – die Sonne – ist immer dieselbe. Aber da kreisen Planeten rund um die Sonne und die Planeten verändern kontinuierlich ihre Position. Die Konfiguration der Planeten repräsentieren die Energien, die unsere Persönlichkeit bestimmen, anders als die Sonne es tut. Was sind das für andere Energien, die unsere Persönlichkeit formen? Die vorherrschenden sind: unsere vergangenen Leben, unsere Eltern, unser Körper und das genetische Erbe, die Gesellschaft, in der wir aufwachsen, die Energie der Erde und die Energie der Menschheit als Ganzes. Ich werde nun jeden dieser Einflüsse besprechen.
– Unsere vergangenen Leben
Wir beginnen mit unseren vergangenen Leben. Und von all diesen vergangenen Leben ist das, was unmittelbar vor dem gegenwärtigen liegt, besonders wichtig; es hat gewöhnlich einen tiefen Einfluß. Die Art, wie unsere vergangenen Leben uns beeinflussen hängt davon ab, wieviel davon wir integriert und losgelassen haben. Nach jedem Leben, wenn wir den physischen Körper verlassen, beginnt ein natürlicher und wunderbarer Wachstumsprozess. Schrittweise lassen wir unsere irdische Persönlichkeit los, mit all ihren Ängsten, Unsicherheiten, Verhaltensmustern und wir kehren zurück und vereinigen uns wieder mit unserer Seele. Wir erfahren das als Wachstumsprozess, wir werden mehr wir selbst. Niemand, der seine Ängste überwunden hat, sagt: Jetzt habe ich etwas Wichtiges verloren. Es ist das Irreale in uns selbst, das wir loslassen und das Ewige, was wir erlauben hereinzukommen. Angst weicht Liebe, Ignoranz der Weisheit. Wir nehmen aus unserem vergangenen Leben das, was uns wachsen läßt in Weisheit und Liebe.
Trotzdem, dieser natürliche Wachstumsprozeß passiert nicht immer. Tatsächlich halten viele Menschen nach ihrem Tod starrköpfig an ihrer irdischen Persönlichkeit fest. Sie werden in ihrem Nachleben eine astrale Umgebung bewohnen, die ihre Bindung zum Leben auf der Erde reflektiert. Wenn sie bestimmte religiöse Glaubenssätze haben, treffen sie sich mit anderen der gleichen religiösen Glaubenssätze, die eine gleiche Vision des Himmels haben. Sie werden möglicherweise darauf beharren, dass sie am richtigen Platz sind und jedes Drängen ihn zu verlassen sei falsch. Dadurch wird natürliches Wachstum geblockt. Das Ergebnis ist, dass viele Menschen glauben, sie wären im Himmel, während sie sich entsetzlich unglücklich fühlen, weil sie nicht auf die Signale ihrer Seele hören. Auch können Menschen so voll von den Eindrücken und Erfahrungen des letzten Lebens sein, das sie nicht so gut loslassen können. Schmerz, Trauma und Verluste können sie überwältigt haben, alternativ können sie auch sehr erfolgreich und glücklich gewesen sein und noch nicht bereit das loszulassen.
Kurzum, ist der Wachstumsprozess durch das Loslassen und Integrieren ihrer vergangenen Leben für viele Menschen nicht – oder nicht vollständig – erledigt, wenn die Seele eine neue Inkarnation beginnt. Was dann geschieht ist, dass sie ihre Wiedergeburt als eine Art Wasserfall aus Licht erleben, der vom Himmel zur Erde fällt und in dem sie mitgesogen werden. Manchmal geben sie sich dem hin, aber oft gibt es auch da einen Widerstand. In meiner Praxis erlebe ich oft diesen Widerstand gegen das Leben auf der Erde, wenn Menschen in den Trancezustand gehen und den Beginn ihres Lebens nochmal aufsuchen. Wenn ich sie frage: “Wie hast Du Dich gefühlt, als Du auf die Erde gekommen bist?” sagen sie: “Ich habe mich gewehrt, ich wollte nicht wirklich kommen, aber ich mußte.” Dieser Widerstand gegen das Leben ist oft ein Muster, das sich durch ihr gesamtes Leben zieht und ist der Grund, warum es ihnen nicht möglich ist, das Leben frei zu genießen.
Wenn ich meine Klienten bitte, achtsam zu beobachten, zu wem dieser Widerstand gehört – wer wehrt sich gegen das Leben? – dann verfolgen sie dieses Gefühl normalerweise zurück zu der Persönlichkeit ihres unmittelbar vorhergegangenen Lebens. Ich versuche sie fühlen zu lassen, dass es da auch einen Teil gibt, der hier sein wollte. Dieser Teil repräsentiert tatsächlich ihr wahres Selbst, ihre Seele. Wenn sie sich mit diesem Teil verbinden können und ihn fühlen, ist der Widerstand überwunden.
Aber auch wenn es in jemand keinen Widerstand gegen das Leben gibt, wenn die Persönlichkeit des vorangegangenen Lebens nicht fähig war, während der Zwischenzeit vor einer neuen Geburt sich mit der Seele zu verbinden und zu vereinen, lebt diese Persönlichkeit des vorangegangenen Lebens in der jetzigen Persönlichkeit. Weil sie ihren Weg zurück zur Seele nicht finden konnte, wird sie im gegenwärtigen Leben ebenfalls im Weg stehen, wenn es darum geht, sich mit der Seele zu verbinden.
– Unsere Eltern
Unsere Eltern sind auf zweierlei Art wichtig. Erstens versorgen sie uns mit den ersten Beispielen von männlicher und weiblicher Energie. Auf der Ebene unserer Seele sind das Männliche und das Weibliche eins, aber sobald wir zur Erde herabsteigen, geschieht eine Art Spaltung. Unsere Eltern agieren wie Gußformen: wir formen unsere weibliche Energie hauptsächlich durch das Bild unserer Mutter und unsere männliche Energie durch das Bild unseres Vaters. Wenn es zwischen unseren Eltern sehr viel Disharmonie gab, spiegelt sich das in der Weise, wie wir mit den männlichen und weiblichen Energien in uns selbst umgehen.
Zweitens werden wir zutiefst durch die Ängste und Glaubensmuster unserer Eltern beeinflußt. Darum ist es so wichtig, zu lernen unsere Eltern zu verstehen und zu lieben, was auch immer falsch an ihnen ist. Sie leben in uns; energetisch gesprochen sind sie ein Teil von uns. Wenn wir in Konflikt mit ihnen sind, sind wir in Konflikt mit uns selbst. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir mit ihnen übereinstimmen müssen. Wir sind in der richtigen Beziehung mit unseren Eltern, wenn wir uns bewusst werden, dass wir ihre Lehrer sind. Jedes Kind hat ein wunderschönes Geschenk für seine Eltern und bietet ihnen etwas Neues an.
– Unser Körper und unsere Genetik
Der Einfluß unseres Körpers auf unsere Persönlichkeit ist riesig; er limitiert und hemmt das Ausmaß, in welcher die Seele durchfließen kann; der größere Teil der Seele kann nicht durch den Körper ausgedrückt werden. Du bist grundsätzlich sehr viel mehr als Du jemals in Deinem Körper sein kannst. Der Körper veranlaßt die Seele sich auf einen spezifischen Ort und Zeit zu fokussieren und durch diese Linse die Realität auf einzigartige Weise zu erfahren. Das erschafft ein starkes Gefühl von Hier und Jetzt.
Das Nervensystem des Körpers ist besonders wichtig; je komplexer und reicher das Nervensystem ist, desto besser kann sich die Seele manifestieren. Durch das Nervensystem eines Hundes kann sich die Seele nicht in dem Maß ausdrücken, wie durch das Nervensystem eines Menschen. Dein Geschlecht hat ebenfalls einen großen Einfluß auf Deine Persönlichkeit: in einem weiblichen Körper ist es einfacher mit Deiner weiblichen Energie in Kontakt zu sein, wie in einem männlichen Körper. Und schließlich ist es nicht schwer sich vorzustellen, wie formend der Körper ist, wenn Du in einem mißgestalteten oder chronisch kranken Körper lebst.
– Die Gesellschaft und Kultur, in der wir aufwachsen
Wir sind alle das Produkt der Zeit und der Gesellschaft, in der wir aufwachsen. Wenn wir beispielsweise ein Buch lesen oder Musik hören, spüren wir oft deutlich, dass sie zu einer bestimmten Zeit und Kultur gehören. Jede Zeit, jede Kultur hat ihre eigenen Ideen, Errungenschaften und generelle Atmosphäre. Darin lebend adaptierst Du einfach diese Energie und nimmst sie für selbstverständlich. Das gilt natürlich auch für unsere eigene Zeit und Kultur. Wir schauen auf die Welt durch die Linse der Zeit, in der wir leben.
– Die Energie der Erde
Wir sind Kinder der Erde; die Erde ist unsere Mutter. Und wie unsere menschliche Mutter einen tiefen Eindruck auf unsere Persönlichkeit hinterläßt, macht es die Erde ebenso. Das ist nicht sofort ersichtlich, weil jedes Wesen auf der Erde nur zu vertraut mit dieser Energie ist. Auch weil wir normalerweise leugnen, dass die Erde ein lebendiges Wesen mit einem Bewusstsein ist, ist uns nicht bewußt, wie sie unser Denken und Tun als menschliche Wesen beeinflußt.
Aber die Erde ist in uns. Astronauten, die die Erde verlassen und sie von Ferne beobachten, werden sich der Verbindung mit ihr zutiefst bewusst. Später im Leben widmen sie sich oft ganz dem Schicksal der Erde.
– Die Energie der Menschheit
Wir sind menschliche Wesen. Als Regressionstherapeut treffe ich bisweilen Klienten, die sich an Lebenszeiten in nicht-menschlicher Form erinnern und normalerweise ist es ein Schock zu entdecken, wie anders das ist, wie anders die Welt wahrgenommen wird, wenn wir nicht menschlich sind.
Ebenso ist die Menschheit als Ganzes eine Einheit; da ist ein großes Gruppenbewußtsein, von dem wir alle ein Teil sind. Was von einer Person erlebt und realisiert wird, betrifft alle. Auf der inneren Ebene sind wir mit all unseren Mitmenschen verbunden. Die Energie dieses Gruppenbewußtseins beeinflußt unsere Persönlichkeit und sie ruft hervor, was uns typisch menschlich sein läßt.
– Das innere Kind
Zusätzlich zu den äußeren Aspekten, die wir weiter oben erwähnt haben, gibt es einen inneren Aspekt, der wesentlich zu unserer Persönlichkeit als Erwachsener beiträgt: das innere Kind. Jeder erwachsene Mensch war einst ein Kind. Wie sehr unsere Kindheit uns prägt, zeigt die Literatur. Die Gefühle und Inspirationen aus unserer Jugend sind eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration für viele Schriftsteller. In der äußeren Welt ist das Mädchen oder der Junge, das oder der wir gewesen sind, völlig verschwunden; der Körper verändert sich ständig. Wenn ich ein Foto von mir selbst als Kind betrachte, sehe ich ein völlig anderes Bild von mir im Spiegel. Aber in meiner inneren Welt sind die Dinge anders: der kleine Junge, der ich war, ist immer noch da. Nicht nur einfach durch meine Erinnerungen, sondern auch in der Weise, wie ich fühle und die Welt um mich herum betrachte – in meiner inneren Welt ist er immer noch lebendig.
Unsere innere Welt ist zeitlos; das innere Kind bewahrt einen sehr reinen und authentischen Teil von uns, der sich in unserer Kindheit zeigte. In der frühen Kindheit sind wir immer noch fest mit unserer Seele verbunden und unsere Psyche ist noch nicht so beeinflußt durch die äußeren Kräfte der Eltern, Gesellschaft, etc. Während wir älter werden, wird unsere Wahrnehmung durch diese Aspekte mehr geformt und geprägt, was uns zu Erwachsenen werden läßt, die sich weniger verbunden mit ihrem Ursprung, ihrer Seele fühlen. Aber wie auch immer, das Kind, das von der äußeren Welt verschwunden ist, lebt in uns: das ist unser inneres Kind.
Psychologisch gesehen ist das innere Kind die Quelle der Freude in unserem Leben; die Fähigkeit auf einer sorglosen Weise inspiriert und glücklich zu sein, im Hier präsent zu sein und die Dinge zu genießen. Unglücklicherweise sind viele von uns in ihrer Jugend durch traumatische oder schmerzhafte Erfahrungen gegangen, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Und weil Zeit in der inneren Welt nicht existiert, ist alles, was Du in Deiner Kindheit als traumatisch erfahren hast, jetzt immer noch eine stressende Erfahrung für Dein inneres Kind. Viele Menschen sehen sich daher mit einem geschädigten inneren Kind konfrontiert, ohne sich dessen bewusst zu sein, und als Ergebnis davon kann das Kind seine natürliche Funktion nicht erfüllen.
Die gute Nachricht ist, dass wir unser inneres Kind heilen können. Der erste Schritt dazu ist sich des emotionalen Traumas bewusst zu werden, das unser Kind erlitten hat. Die älteren unter uns sind in einer Welt groß geworden, in der Kinder Objekte der Erziehung waren, und ihre eigene Identität wurde nicht ernst genommen. Als Erwachsener wirst Du es ziemlich normal und wichtig finden, dass Dein Kind zur Schule geht, aber das Kind mag es als traumatisch empfinden, in einem Gebäude gefangen zu sein, Regeln zu befolgen und Dinge zu erlenen, nach denen es kein Verlangen hat, ohne dass es irgendwas falsch gemacht hätte. Um zu fühlen, was wir als Kind erfahren haben, müssen wir die Brille des Erwachsenen absetzen, um unserem inneren Kind vollständig zu begegnen. Wir als Erwachsene können das Verhalten unserer Eltern verstehen und vergeben – aber kann das Kind in uns das?
In meiner Erfahrung hat dieser ernsthafte und unbegrenzte Blick auf unser inneres Kind einen enormen Heilungseffekt. Selbst wenn der Schmerz nicht sofort verschwindet, fühlt sich das Kind gesehen und ernst genommen. Das Kind spürt, dass es ihm erlaubt ist, sein natürliches Selbst zu sein. Das schafft Raum für Heilung.
In mancher Literatur wird das Kind als unser Ego betrachtet. Aus dieser Sichtweise sind Menschen mit einem großen Ego nicht in der Lage ihr inneres Kind zu kontrollieren oder zu verbergen. Meiner Ansicht nach ist das allerdings nicht der Fall. Aber bevor ich erklären kann, was das Ego ist, muss ich noch etwas anderes erklären: das Bewusstsein selbst
Bewusstsein
Wenn ich gesagt habe, dass der Beginn unseres physischen Lebens wie ein Lichtstrahl ist, der von unserer Seele kommt und die Erde berührt, so habe ich dieses Ereignis von außerhalb beschrieben. Aber genauso wie ein Lichtstrahl im physischen Universum von innen gesehen niemals den Stern verläßt, verlassen wir niemals unsere Seele, wenn wir inkarnieren: es ist nur eine Verlagerung des Bewußtseins. Unser Bewusstsein wird fokussiert in einen 3D Körper mit fünf Sinnen und einem menschlichen Gehirn.
Bewusstsein, was ist das tatsächlich? Es ist ein Konzept, was sehr schwierig zu definieren ist – oder auch gar nicht. Der Grund ist, dass Bewusstsein die Basis für alles und jedes ist; alles, was wir denken, tun und sind, beruht auf Bewusstsein. Wissenschaftler, die versuchen Bewußtsein im Sinn von etwas nicht Bewußtem wie Gehirnzellen und biologischen Mechanismen zu erklären, vergessen oft, dass die Wissenschaft selbst auf Bewusstsein beruht. Obendrein sagt die Wissenschaft selbst durch die Quantenphysik, dass die Elementarteilchen der Physik nur in Existenz kommen (also eine fixierte Lokalisation in Raum und Zeit haben), wenn es einen Beobachter gibt, der sie wahrnimmt. Und damit die Wahrnehmung stattfinden kann, muss Bewusstsein schon vorhanden sein. So versucht die Wissenschaft auf der einen Seite Bewußtsein als ein Produkt von materiellen Gesetzen und Partikeln zu erklären, aber auf der anderen Seite setzen genau diese Gesetze und Partikel Bewußtsein voraus, um überhaupt zu existieren. Bewusstsein ist ein großes Mysterium; ohne Bewusstsein – nichts.
Ich will trotzdem versuchen einige der Hauptcharakteristiken von Bewusstsein einzufangen. Wenn ich nach innen gehe, mich auf das fokussiere, was ich subjektiv erfahre, gibt es tatsächlich eine Sammlung an Erfahrungen: Farben, Klänge, Gefühle, Gedanken, etc. Ohne Bewußtsein würde ich nichts von alledem erfahren. Infolge dessen ist Bewusstsein zuallererst etwas, was diese Erfahrungen möglich macht: Bewusstsein ist ein innerer Raum, in dem Erfahrungen stattfinden können.
Aber das ist noch nicht alles: alle diese Erfahrungen in meinem Kopf sind miteinander verbunden. Wenn ich mit jemand spreche, dann sehe ich diese Person und höre sie. Die visuellen und auditiven Erfahrungen werden auf die eine oder andere Art und Weise innerlich verbunden und erschaffen gemeinsam die vielschichtige Erfahrung der Interaktion mit der Person vor mir. Bewusstsein ist das, was unsere Erfahrungen möglich macht und ebenso das, was ihnen eine Einheit gibt. Es ist dieser Punkt in mir, wo die Dinge zusammen kommen.
Gleichzeitig ist Bewusstsein in der Lage aktiv zu fokussieren, mir erlaubend, meine Aufmerksamkeit auf etwas Spezielles zu richten. Zum Beispiel kann ich völlig absorbiert in meine Arbeit oder in einen Film sein oder ich kann entscheiden, in einem besonderen Teil meines Körpers vollständig präsent zu sein, während ich meditiere. Wenn ich spazierengehe, kann mein Bewußtsein meinen Körper sogar vollständig verlassen, während meine Gedanken wandern. Wenn plötzlich ein Auto hupt, kehre ich mit einem Schock in die Gegenwart zurück.
Diese Fähigkeit sich zu fokussieren kann eine noch extremere Form annehmen. Der Fokus kann so intensiv sein, dass ich mich mit etwas vollständig identifiziere: ich verschmelze damit und beginne zu glauben, das ich das bin. Was wir vom Standpunkt der Seele aus eine Inkarnation nennen, ist eine Zeit, in der das Bewußtsein sich mit einer irdischen Persönlichkeit identifiziert. Es denkt, es sei die Person und dass es nichts außerhalb davon gibt.
Fast alle Probleme in unserem Leben entstehen, weil wir uns stark mit etwas identifizieren, was wir in Wahrheit nicht sind. In dem Moment, wo wir uns entscheiden uns mit dem, wer wir wirklich sind, zu identifizieren – unserer Seele – entdecken wir, dass die meisten unserer Probleme eingebildet waren.
Die Fähigkeit sich mit etwas zu identifizieren, ist eine Fähigkeit unseres Bewusstseins. Und wenn ich mich mit meiner irdischen Persönlichkeit identifiziere, wird das Ego geboren.
Ego
Was ist das Ego? Wenn wir sagen, dass jemand ein “großes Ego” hat, meinen wir normalerweise, dass jemand denkt, er sei sehr wichtig, sogar überlegen und verbirgt das nicht vor jedermann, und so ein Kerl regt uns besonders auf. Wenn jemand sich wichtig findet, na gut, aber wenn er das offen zeigt, werden wir ärgerlich. In dieser Haltung liegt natürlich etwas Paradoxes; wenn jemand sehr wichtigtuerisch agiert, findet er uns offensichtlich nicht so wichtig – und das verletzt unser Ego. Also halten wir uns selbst ebenfalls für sehr wichtig, aber wir sind nur “zivilisiert” genug, das zu verbergen. Wir denken, dass das moralisch richtig sei. Letztlich sollen wir an andere denken und nicht selbstbezogen sein: Bescheidenheit ist das Motto. Aber wenn sich jemand daran nicht hält und sich selbst unverfroren behauptet, sind wir dann nicht ein bißchen eifersüchtig? Eifersucht ist auch etwas vom Ego. Mit anderen Worten, wir alle haben ein Ego. Wenn wir wirklich ego-los wären, wären wir nicht so ärgerlich über das Ego anderer Leute.
Aber was genau ist das Ego? Das Ego ist nicht ein Ding, sondern ein Messen. Wie ich schon sagte, hat unser Bewusstsein die Fähigkeit sich auf etwas zu fokussieren. Aus einer spirituellen Sicht heraus, bedeutet geboren zu werden eine Veränderung im Fokus des Bewusstseins der Seele auf die irdische Persönlichkeit. Und in manchen Fällen ist diese Veränderung so radikal, dass das Bewusstsein zu glauben beginnt, dass die irdische Persönlichkeit alles ist, was es da gibt. Die Persönlichkeit wird extrem wichtig. Das wird ein großes Ego genannt. Also was ist ein Ego? Das Ego ist das Ausmaß, in dem sich das Bewusstsein mit der irdischen Persönlichkeit identifiziert.
Letztendlich, Liebe
Warum machen wir das? Warum inkarnieren wir als ein menschliches Wesen und verlieren uns selbst völlig in eine irdische Persönlichkeit? Warum verlassen wir die Atmosphäre von Licht und Liebe und wenden uns den Herausforderungen der Dualität auf der Erde zu?
Die tiefste Antwort auf diese Frage ist Liebe. Aus der Liebe heraus betreten wir ein Gebiet, wo es keine Liebe gibt; das ultimative Ziel ist es, auch dorthin Liebe und Licht zu bringen. Der Sprung in die Dunkelheit ist letztlich ein Akt der Liebe.
Wenn wir hier landen, identifizieren wir uns erst einmal vollständig mit einer spezifischen Persönlichkeit. Das Universum wird auf unsere einzigartige Weise erfahren; da ist kein Platz für eine andere Perspektive. Die Welt wird durch die Augen der Dualität gesehen: wir gegen die anderen.
Aber so wie sich das Bewußtsein über viele Lebenszeiten entwickelt, erinnert es sich allmählich an die Seele und die Dualität wird transzendiert. Neue Ideen tauchen auf: liebe Deine Feinde, respektiere Menschen anderen Glaubens, wertschätze die Schönheit der Natur und realisiere, dass wir Menschen Teil der Natur sind. Letztendlich gibt es ein vollständiges Verstehen: bedingungslose Liebe für Dich selbst, für das menschliche Wesen, das Du gerade im Moment bist – und schlußendlich für die Welt um Dich herum. Nach vielen Leben ist das Ziel erreicht: das dunkle Gebiet beginnt sich mit Licht und Liebe zu füllen; die Tränen werden weg gewischt.
Als den letzten Teil der menschlichen Persönlichkeit möchte ich die Liebe erwähnen. Sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Psychologie werden die Ursachen von Dingen oft in einer mechanischen, materialistischen Weise erklärt. Trotzdem glaube ich daran, dass alles was existiert letztendlich aus Liebe erschaffen wurde. Liebe ist die Verbindung zwischen dem Einen (Geist, engl. Spirit) und dem Vielen (Schöpfung), zwischen der Seele und der menschlichen Persönlichkeit. Und diese ursprüngliche Liebe ist in uns präsent als eine unerschöpfliche Quelle. Nur wenn wir uns dieser Quelle bewusst sind, sind wir als menschliche Wesen vollständig.
© Gerrit Gielen
Übersetzung Gabriele Rother